Rezensiert von Hans-Dieter Kübler


Da ist man auf zwei einschlägige Neuerscheinungen gespannt, die jeweils Blicke über besagte Tellerränder versprechen: die eine als demokratie- und medientheoretische Grundlegung mit dem Fokus auf das nutzende Subjekt (allerdings mit einem rätselhaften Titel), die andere mit kultur- und bildungstheoretischer Fundierung in einer sich digitalisierenden und diversifizierenden Welt.
Die anhaltende Medialisierung und Computerisierung hat der ehemalige Lehrer und nun an der Pontificia Universidade Católica do Rio de Janeiro lehrende Medienwissenschaftler Roberto Simanowski schon in einigen Studien zuvor beschrieben und kritisiert, worauf er wiederholt hinweist. Auch die vorliegende Streitschrift ist eher im Stil eines ambitionierten Sachbuchs verfasst, die sämtliche Negativentwicklungen – von Trumps Fake News über die rhetorischen Auswüchse in den Sozialen Netzwerken bis hin zu den kühnen Visionen zur künstlichen Intelligenz – kritisch aufspießt, ihnen Haltlosigkeit und Irrwege vorwirft und immer wieder mit dem Anspruch von Vernunft und demokratischen Werten dagegenhält.
Sein generelles Ziel formuliert der Autor eingangs recht unspektakulär und sachlich: Er wolle nämlich “die Funktionsweisen der sozialen Netzwerke, der neuen Medien und der digitalen Technologien [schon diese unspezifizierte Aufreihung verwundert, HDK]“ verständlich machen und “deren vermuteten gesellschaftliche Folgen“ diskutieren. Geleitet wird er dabei von der “Ausgangsthese“, “dass der Umgang der Bildungsinstitutionen mit den neuen Medien nicht nur von erschreckender Unkenntnis geprägt ist, sondern auch von enttäuschender Fantasielosigkeit, übertriebener Angst und beträchtlichem Opportunismus“ (12).
Sich so über alle erhebend (was übrigens an keiner Stelle des Buches hinreichend belegt wird und auch nicht mit der eingangs erwähnten eifrigen und vielfältigen Diskussion übereinstimmt), lässt es sich massiv und unbedingt austeilen: in drei Kapiteln, zunächst über die gesellschaftlichen Entwicklungen und Konsequenzen der Medienrevolutionen, etwa über die Funktionslogik und das Geschäftsmodell von Facebook und die “stattfindende ideologische Disruption des demokratisch organisiertes Gesellschaftsgefüges“ bis hin zu seiner drohenden Zerstörung; sodann über die wahren, kaum verborgenen Ziele der digitalen Bildungsreform, die letztlich den “arbeitsmarktgerecht ausgebildeten Bürger im Sinne eines neoliberalen Bildungskonzepts“ (27) anstrebt; und endlich über die Transformation der Universität unter der Maßgabe der so genannten “Digital Humanities“, der technologisch und ökonomisch neu ausgerichteten Geisteswissenschaften, die nur noch die Parameter der Quantifizierung, des Messens und Verwertens, gelten lassen und letztlich “einem neuen Positivismus und Objektivismus“ (29) anheimfallen.
Den Bildungseinrichtungen wirft der Autor generell vor, sie förderten vorrangig oder ausschließlich die Mediennutzungskompetenz und vernachlässigen die Medienreflexionskompetenz, so dass die Jugendlichen zu mehr oder weniger funktionierenden, besinnungslosen Usern werden. Was besagte Reflexionskompetenz sein soll, darüber ergeht sich der Autor bei den pädagogischen Ahnvätern wie Humboldt, Mendelsohn, Villaume, Kant, Hölderlin und Adorno, ohne sie konkret in die anhaltende Bildungsdiskussion einzubringen.
Relativ unvermittelt und unsystematisch kommt er dann an einigen Stellen (132; 138; 140) auf konkrete curriculare Bildungsziele bzw. -vorhaben zu sprechen, die nicht so recht zur sonst geübten Fundamentalkritik passen: Da kann Programmieren das Denken lehren und die Welt verändern, “Mediendiäten“ können verabredet und verfolgt werden, Zukunftsszenarien lassen sich erstellen. Auch bei den Universitäten werden – sicherlich nicht zu unrecht – viele Fehlentwicklungen angeprangert, die auch anderswo schon kritisiert wurden: etwa die wachsende Ökonomisierung und Instrumentierung von Lehre und Forschung, die steigende Intervention der Politik, die die Autonomie der Hochschulen untergräbt, die fortschreitende Dominanz der MINT-Fächer, die die Geistes- und Sozialwissenschaften verdrängt. Doch ihre Forcierung lässt sich gewiss nicht ausschließlich auf die anhaltende Digitalisierung zurückführen, wenngleich sie sie möglicherweise verstärkt.
Aber wenn Simanowski am Ende des Kapitels ‘nur‘ das “Kulturgut Lesen“ (169) und die “Ethik des Machens“ (176) beschwört, auf das die Geisteswissenschaften der “Gesellschaft ein wissenschaftlich reflektiertes Wissen über sich selbst“ vermitteln können, dann wird wohl jede*r diesem Postulat zustimmen, aber weiter führen dürfte es kaum. So bleiben letztlich nur die pauschalen Appelle nach “Erziehung zur Mündigkeit“ (198) und zur “Kritik als Tugend“ (216), die sich gegen vermeintliche Sachzwänge und die Obsession von totaler Messbarkeit und Machbarkeit stemmen (sollen). Und ob Mark Zuckerberg der nächste amerikanische Präsident wird, wie der Autor mehrfach raunt, mag mit Blick auf Trump gleichfalls egal sein; immerhin konnte er schon einen Weltkonzern managen, was Trump auch misslang.


Moderne und Postmoderne markieren sodann transformierende Gesellschaften, wobei die Postmoderne angeblich mit solchen Entwicklungen mit Ironie, Protest und Subversion spielt. Entgegen wachsender Kritik lobt der Autor nach wie vor die dezentrale Struktur und partizipative Option des Internets, billigt ihm konstitutive Potenziale bei der Bildung “digitaler Kulturen” zu, wie es ja anfangs funktionierte, und räumt ihm allerdings auch eine ambivalente Qualität zwischen postmoderner Diversität und neoliberaler Subjektivierung, zwischen subjektiver Selbstverständigung und ökonomischer Funktionalisierung ein.
Ambivalenz prägt auch die Universität in ihrer Funktionalität für die Gesellschaft, nämlich als Forum für Forschung, mithin der Erzeugung methodisch gesicherten wissenschaftlichen Wissens, wie für Lehre, als Bildung und Qualifizierung von Fach- und Führungskräften für den jeweils herrschenden Arbeitsmarkt, ja sie wird sogar als Widerstandsort gegen, mindestens als Reflexionsforum über die Digitalisierung apostrophiert.
Arbeiten von Derrida, Bourdieu, Lyotard, Giddens u.a. werden dafür als diskursive Belege angeführt. Aus Sicht des Autors eignet sich dafür am treffendsten Begriff und Anspruch postmoderner Medienbildung, da sie eine “subjektphilosophische begründete Spielart der Kulturen des Digitalen“ (188) voraussetzt und unterstützt. Sie sei als “sozial rückgekoppelter Prozess der Wahrnehmung von Medien, des Umgangs mit Medien sowie der kritischen Reflexion über Medien bzw. die mediale Strukturiertheit von Welt [zu] verstehen“ (187). Aber mit diesen Attributen werden letztlich nur bekannte Ziele und Lernfelder der traditionellen Medienpädagogik rekapituliert, wie sie seit dem Postulat der Medienkompetenz virulent sind. Der grassierenden Digitalisierung, die weit über die Medien hinausreicht und alle Lebensbereiche durchdringt und umwälzt, werden diese Bildungsforderungen leider nicht gerecht.
Links:
- Verlagsinformationen zu Stumme Medien
- Webpräsenz von Prof. Dr. Roberto Simanowski
- Verlagsinformationen zu Kulturen des Digitalen
- Webpräsenz von Dr. David Kergel an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim
- Webpräsenz von Prof. Dr. Hans-Dieter Kübler an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Roberto Simanowski: Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft. Berlin [Matthes & Seitz] 2018, 304 Seiten, 24,- Euro.Empfohlene ZitierweiseMedienbildung in Zeiten der Digitalisierung. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 21. Januar 2019, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21588